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Kino ist Träumen mit offenen Augen, ist das Imaginieren von Geschehen und Erleben. Ins Kino gehen bedeutet, sich freiwillig einer Realitätsrepräsentation auszuliefern und wer im Kino die Augen öffnet ist schon gefangen – in der BLICKFALLE.
Auf das letztjährige Programm mit stummen Filmen von 1919-2007 lassen wir nun die Einladung folgen, mit uns in diese BLICKFALLE zu tappen und zu entdecken, dass erst das Sehen den Film macht. Erneut spannen wir den Bogen weit und zeigen Produktionen von der Frühzeit des Kinos bis hin zu Aktuellem und wieder ist unser Programm eine Verneigung vor der Vielfalt der Filmsprache.
Die Ablösung des Stumm- durch den Tonfilm, einsetzend mit dem Beginn der 1920er Jahre, hatte die Kinematographie einem ursprünglichen Ziel näher gebracht: der Möglichkeit, eine Rolle als perfekte Realitätskunst (1) auszuüben, Leben zu reproduzieren. Schon ein Film wie DER BLAUE ENGEL (1930) wäre ohne den Ton nicht denkbar gewesen; auch Kamera und Schauspiel eröffneten sich mit der neu gewonnenen Freiheit völlig neue Spielräume. Andererseits aber führte die weitere Entwicklung dazu, dass die Bilder ihrer Sprache beraubt und die Leinwände von sprechenden Köpfen bevölkert wurden, die uns sagen was wir gerade sehen. Mit dem Auftritt des Tons ist der Film zugleich verstummt, er hat an Sprache verloren.
Heute ist die akustische Dimension des Kinos längst nicht mehr als Ergänzung oder Nebensache zum Filmbild zu betrachten. Spätestens seit George Lucas' 1983 erschienenem THE RETURN OF THE JEDI ist die Black Box des Kinos ein vor allem akustisch manipulierter Raum. Mit dem Tonwiedergabestandard THX und dem sich anschließenden Dolby Surround EX hat der Filmton die Leinwand verlassen, ist aus dem Bild heraus getreten; das Zentrum der Macht hat sich verschoben. "Aus neurophysiologischer Sicht geht es hier um akustische Daten, die sich an das Zwischenhirn richten und die emotionalen und körpergebundenen Funktionen des Gehirns ansprechen". (1) Durch die immer stärker in Erscheinung tretende Verflechtung der verschiedenen Tonebenen im Film mit einem Schwerpunkt auf einem Sound 'larger-than-life' wird eine neue Wahrnehmungssituation generiert. Durch eine Überhöhung des Klangursprungs, und durch das tatsächlich physische Eindringen des Klangs in die Zuschauerkörper, ist die Distanz zum Geschehen reduziert, das Erleben erscheint unmittelbarer. Das ist beeindruckend und kann unterhaltsam sein, jedoch führt es zum Verstummen der Erzählung und zu einer akustischen Überdosis.
ERST DAS SEHEN MACHT DEN FILM! Erst in der Wahrnehmung des Publikums, erst wenn seine Augen den Film lesen und die Zuschauer nicht vom Schalldruck des 5.1 in die Sessel gepresst kapitulieren, erst dann entstehen die Geschichten, die uns alle so begeistern können. Wie in der Fotografie so noch viel mehr im Film (sofern er nicht nur bebildertes Hörspiel sein möchte) ist das Vorhandensein offener Deutungsräume von enormer Bedeutung. Solchen wollen wir nachspüren!
Unter dem Titel BLICKFALLE lockt die zweite Ausgabe unseres Festivals SOLO FÜR LICHT die Betrachter nun in die gefährlich verschlungenen Tiefen des filmischen Erzählens. Hinter dem beengenden Ereignishorizont des Entertainments angesiedelt, will das Programm viel Stoff liefern – für Hypothesenbildung, Rückkopplungen und rezeptionelle Erkundungen.
In einer von drei Sektionen setzen wir auch in diesem Jahr auf Töne, auf jene, die Musiker live zu Gehör bringen, wenn auf der Leinwand ausgewählte Werke der Stummfilmzeit zu sehen sind. Wie werden wir Joe Mays großstädtischen ASPHALT (1928/29) erleben, begleitet mit der historischen Kinoorgel im GRASSI; wie etwa die erste italienische Spielfilmproduktion L'INFERNO (1911) in der Interpretation der jungen Musiker von LU:V? Kann man einem Film wie CYANKALI (1930), der nachträglich mit Tonsequenzen versehen wurde, musikalisch neues Leben einhauchen? Es bedurfte grandioser filmischer Ideen und gewaltiger finanzieller und physischer Aufwendungen, um Filme wie THE GENERAL (1927) oder DER BERG DES SCHICKSALS (1923/24) zu verwirklichen. Wie wirken sie heute auf uns? Entdecken wir die Echtheit der vermeintlichen Tricks und sehen wir mehr als überdrehte Satire wenn MR. WEST IM LAND DER BOLSCHEWIKI (1924) seine Abenteuer besteht? Mit zwei Programmen in dieser Sektion der FILMMUSIK/LIVE wollen wir neuerdings auch die jüngsten Zuschauer als Festivalgäste ins Kino locken. CHARLIE CHAPLINS LACHPARADE (1916) versammelt fünf Slapsticks für das junge Publikum und beim spannenden Pilotprojekt LASST DIE TORTEN FLIEGEN! begleiten Kinder selbst kurze stumme Produktionen ihrer Wahl mit Instrumenten!
Erstmals begeben wir uns in diesem Jahr auch auf das weite Feld der ARCHÄOLOGIE – wir wagen das Experiment und heben einen Schatz der Filmgeschichte, um ihn eigens und ausschließlich für das Festival mit deutschen Zwischentiteln zu versehen und somit einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. THE CAT AND THE CANARY (1927) war der erste amerikanische Film der in die USA ausgewanderten Regie-Legende Paul Leni und wurde, obgleich mit skurrilem Humor gespickt, stilbildend für das Genre des Horrorfilms.
Die Sektion ERST DAS SEHEN MACHT DEN FILM! schließlich versammelt so unterschiedliche, zum Teil nahezu dialogfreie Produktionen wie NAKED ISLAND (1960), DIE GROSSE STILLE (2005) oder HALTEPUNKT (2000); Filme, die im Grenzbereich zwischen Fiktivem und Dokumentarischen siedeln, deren Dramaturgie nicht den Regeln des "großen" Erzählkinos folgt und die doch so ungleich mehr bereit halten an Entdeckungen als so manches filmische Epos. Denn, im Film, den wir Betrachter unbewusst aber gewohnheitsmäßig als Abbild des Wirklichen lesen, ist diese Wirklichkeit zu einer „Ordnung des Bildes geworden..., die radikal offen ist und ihr Korrelat in einer Empfindung hat, die sich aus den Zeichen der Bilder und den Zeichen der eigenen Erfahrung, Erinnerung und nicht zuletzt des Unbewussten speist...“. (2) Diesem Unbewussten wollen wir Nahrung liefern, Brennstoff, der einen „Sinnüberschuss“ generieren und Film-Sehen als Expedition zu neuen Ufern führen kann. Denn im Gegensatz zur im Entertainment in der Regel vorherrschenden „Materialdressur“ (3) ist die oftmals ungewohnte Grammatik der nicht nur stummen Filme vielleicht zunächst irritierend, führt aber zur überraschenden Entdeckung von Beziehungsgeflechten, deren Bedeutungsvorrat ein reichhaltiges und veränderliches System von (selbst widersprüchlichen) Zuordnungen und Empfindungen hervorrufen kann – wie im "richtigen" Leben. Es ist ein immer wieder aufregender und spannender — aber leider sehr selten anzutreffender — Moment, im Kino zu sitzen und nicht zu wissen, was gleich geschehen wird. Damit meinen wir nicht nur die Suspense des Handlungsstrangs, sondern vor allem die Art und Weise, in welcher das Filmische uns entgegen tritt.
So stehen wir beispielsweise in VACE DE NOCES (1974) vor der Aufgabe, nicht nur unsere eigene Schockiertheit zu verarbeiten, sondern durch diese zum Topos des Films eine Beziehung herzustellen. Wohingegen WAVELENGTH (1967) sich nur erschließen lässt, wenn scheinbar Nebensächliches mit scheinbar im Zentrum Stehenden wahrgenommen und mit unserer Erwartung und der eigenen Dynamik des Films in Korrespondenz gesetzt wird. Die hierbei zu Tage tretende Verflechtung von Innerem und Äußerem, die Unschärfe von Grenzen sind wiederkehrende Spiegelebenen des Programms. Sehen wir eine romantische Jungenträumerei, einen Dokumentarfilm oder gar Werbung für eine Erdölfirma bei LOUISIANA STORY (1948)? Die "Blickfalle" schnappt zu, wenn wir uns mit einem Mal auf neuem Territorium befinden und unser Programm zudem die Zulässigkeit der Trennung von Film und Kunst in Frage stellt. Ist es Tanz, Film, Architektur bei PAVILLON NOIR (2006), kann ein Rhythmus von Kamera, Focus und Schnitt Träger einer Geschichte sein? Oder gar ein mittelalterliches Bild (THE FRANKLIN ABRAHAM, 2004)? Mehr als 20 Filme in 17 Programmen umreißen hier die Möglichkeiten des Films in der Black Box des Kinos den Betrachter zum „Er-Finden“ der Story zu verleiten, filmische Strukturen als Teil der zu erzählenden Geschichte zu entdecken. Denn nicht die reine Abbildung auf dem Tableau der Leinwand, nicht das pure Geschehen, nicht ein schönes Motiv, nein, zuallererst das Sehen, das Interpretieren des Gesehenen konstruiert Kino (im Kopf des Publikums).
Unser Programm soll dem Zuschauer einen Kontext eröffnen, „... in dem es um das Vermuten geht, um das Abenteuer der Mutmaßung, um das Wagnis der Aufstellung von Hypothesen angesichts eines scheinbar unerklärlichen Tatbestandes, eines dunklen Sachverhaltes oder mysteriösen Befundes...“. (4) In spielender Form bieten wir Film als »Licht-Schrift« (Moholy-Nagy), die gelesen werden und die ein enormes erzählerisches Universum öffnen kann. Mit dem diesjährigen Programm unseres Festivals wünschen wir Ihnen solch spannende Erfahrungen!
Jane Wegewitz, Sven Wörner
(1) Quelle/Zitat: Nora Abdel Rahman, 'larger than life' oder wie real ist das Kino?, www.nachdemfilm.de/no2
(2) Bernd Stiegler: Bilder der Photographie. Suhrkamp, Frankfurt/M., 2006.
(3) Rudolf Kersting: Wie die Sinne auf Montage gingen, Stroemfeld / Roter Stern, Basel, 1989
(4) Umberto Eco: Im Labyrinth der Vernunft. Reclam Verlag, Leipzig, 1989.